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Waltraud Peppel: Wie man mit Zen die übervolle Tasse leert

Waltraud Peppel: Wie man mit Zen die übervolle Tasse leert-->

Daishin Rinzai Zen Ango-Sesshin Juli 2017

Nan-in, ein japanischer Meister, empfing den Besuch eines Universitätsprofessors, der etwas über Zen erfahren wollte. Nan-in servierte Tee. Er goß die Tasse seines Besuchers voll und hörte nicht auf zu gießen. Der Professor beobachtete das Überlaufen, bis er nicht mehr an sich halten konnte. "Es ist übervoll. Mehr geht nicht hinein!" "So wie diese Tasse", sagte der Meister, "sind auch Sie voll mit Ihren eigenen Meinungen und Spekulationen. Wie kann ich Ihnen Zen zeigen, bevor Sie Ihre Tasse geleert haben?"

Die meisten von uns kommen aus einem Alltag, der uns viel abverlangt. Eigentlich wollen wir Ruhe und Stille finden, deshalb sind wir ja hier, aber gerade am Beginn eines Sesshins werden wir oft zuerst mit den eigenen Themen konfrontiert.
Und stellen fest: Unsere Tasse ist genauso randvoll, wie die Tasse des Professors in der Geschichte.
Gespräche, die noch nachhallen, Erwartungen, die wir haben oder erfüllen wollen, Begegnungen, die uns beschäftigen, und und und ...

In den gefühlt angehaltenen Momenten auf der Matte klettert unser Bewusstsein an den Teetassenrand und betrachtet aus der Vogelperspektive, was wir oder das Leben uns eingeschenkt haben. All die bewegenden, anstrengenden, verstrickten oder komischen Kapitel, die der Alltag so schreibt.
Sie alle, samt den dazugehörenden Gefühlen tauchen in der Stille der Meditation an die Oberfläche; winken, schneiden Fratzen, höhnen oder beschweren sich.
Weil sie sichtbar werden, sich zeigen, wird uns klar, worum es gerade in unserer momentanen Situation geht. Aber auch, in welchem Zustand sich unser Geist befindet. Meister Nan-in empfiehlt, die übervolle Tasse zu leeren. Aber wie geht das, leer werden?

Leer werden bedeutet im ersten Schritt, mich mir selbst anzunähern. In Kontakt mit mir zu treten.

Zeit, habe ich gelernt, ist eins der wichtigsten Mittel, um mich wieder mit mir selbst zu verbinden.
Zeit, still zu werden. Nach innen zu horchen. Zeit, anzukommen, egal wo ich mich befinde.
Mir die Zeit, die das benötigt, wieder bei mir anzudocken, zu nehmen. Diesen Kontakt herzustellen, klappt am besten über den Körper. In meinen eigenen Körper einkehren. Jegliche Empfindungen wahrnehmen. Atem. Erdung.

Und dann:
Indem ich anfange, mit dem ganzen Körper zu denken, statt nur mit dem Kopf, und zusehe, wie alles kommt und geht, Empfindungen, Gedanken, Impulse; indem ich beobachte, wie Es herumwirbelt, sich wichtig macht oder aufplustert, verblasst Es, verliert an Bedeutung.
Und manchmal frage ich mich: Wo ist das Problem von gestern geblieben, das ich heute nirgends finden kann?

Wenn wir uns weder an die schönen noch an die hässlichen Gedanken haften, sie als Nicht-Ich identifizieren, geschieht es ganz von selbst, dass der Pegel in unserer Tasse sinkt. Das Entstehen und Vergehen von diesen Gespenstern ist ein normaler Prozess, und je weniger wir mit unserem verhafteten, wollenden Ich eingreifen, werden diese Aktivitäten durch Zazen weniger. Es hilft uns, lang und ausdauernd zu sitzen, denn dann wird es das Ego allmählich leid, permanent und unaufhörlich zu beurteilen.

Das Angosesshin lädt uns ein, mit jedem Schluck Zazen, den wir zu uns nehmen, unseren Geist mehr und mehr aus der zwanghaften Umklammerung von Gedanken, Gefühlen und Projektionen zu lösen. Wir wissen: Wenn ein Körperteil lange Zeit zu sehr beansprucht wird, verkrampft es, wird müde oder krank.
Das gleiche passiert mit unserer mentalen Beweglichkeit, wenn wir es versäumen, uns mit unserer innewohnenden Weisheit oder Natürlichkeit zu verbinden.

Achtsamkeit ist ein Instrument, das wir benutzen können, um zu erkennen wann wir an etwas hängenbleiben.
Wenn wir uns ganz auf die Übung konzentrieren und der bewertende, kritische Kommentator in uns Ruhe gibt, entsteht ein Raum. Dieser Raum entfaltet sich in unserer Übung.
Gedanken kommen und gehen.
Gefühle kommen und gehen.
Der Geist reinigt sich von ganz alleine und wird klar.
Plötzlich sehen wir, dass es eine Instanz in uns gibt, die unabhängig von Konzepten und Vorstellungen existiert.
Tiefer und tiefer lassen wir uns auf unseren Atem ein, und nach einer Zeit gelingt es uns vielleicht, in einen Zustand von Entspanntheit und Hingabe zu kommen.

Hingabe impliziert „hin geben“. Was bedeutet das? Wem geben wir uns hin?
Hingabe passiert, wenn wir bereit sind uns auf Kosten unseres Egos an die wahre Natur zu verschenken.
Was uns daran hindert ist die Angst, die Kontrolle zu verlieren.
Schließlich wollen wir alles „im Griff“ haben und in Haltlosigkeit oder Leerheit zu fallen, wie wir uns das vorstellen, ist das Letzte was unser Ego möchte. Denn dann hat es ja nichts mehr zu melden.
Dennoch: Etwas in uns sehnt sich danach, loszulassen. Wenn wir unsere Angst entlarven und erlauben, tief in uns selbst anzukommen, wachsen wir in eine umfassendere Harmonie, in einen Zustand von Nichttrennung hinein.
Es ist ein In-Sich-Versenken im Sein.
Oder im hellen Herz.
Dann erfahren wir eine andere Dimension von Wirklichkeit.
Unser Körper ist das Gefäß, in dem der Geist frei fliessen darf, wenn wir es zulassen.
Wolken ziehen vorüber und der endlose Raum breitet sich in uns aus.
Das kleine Ich taucht in das große Selbst.

Meister Nan-in erteilt dem Professor ohne Worte eine erfrischende, unmittelbare Lektion. Großartig!

Wie schön wäre es, wenn sich gleich beim Hören der Erzählung der Schalter unseres inneren Kontrollsystems von „Denken“ nach „Sein“ umlegen würde.
Leider reicht es nicht aus um aus jahrzehntelang trainierten Gewohnheiten auszusteigen.
Wir müssen in unseren eigenen Geist Schauen und Freiheit finden.
Wir müssen alle Erfahrungen selber machen. Kein anderer kann das für uns tun.
Deshalb sind wir hier.
Aber die gemeinsame Kraft, Jiriki, die wir erzeugen, die Einheit die entsteht wenn wir zusammen praktizieren, unterstützt uns auf geheimnisvolle und heilsame Weise.

Zazen zeigt uns, wie wir unsere Tasse immer wieder von Neuem leeren können, damit es uns möglich wird in unseren ursprünglichen, natürlichen Zustand heimzukehren.
Nicht nur auf dem Sitzkissen sondern immer genau dort, wo sich unser Körper befindet.

-Wenn der Geist still wird wird die Welt wahr.-

Waltraud Peppel ist Meditationslehrerin des Daishin Zen